Astreth Freirsdotter
Mein Ritus mag ein ungewöhnlicher sein, aber ich werde diese Tradition befolgen. Ich werde dieses Tagebuch schreiben. Ich bin Astreth Freirsdotter, Tochter von Jorek und Freir, ältere Schwester von Torun Joreksson, und dies ist mein Ritus der Trennung. Der letzte Initiationsritus der Schamanen.
Es scheint nur passend, dass ich am Anfang starte. Ich war schon immer anders: Schon bei Geburt sah ich anders aus als der Rest des Stamms - statt dunklem Haar war meines blond, statt grauer Haut sah meine mehr den Menschen ähnlich. Oh, und dann ist da die Sache mit meinen unterschiedlichen Augen - eines braun, eines strahlend hellblau. Mir wurde gesagt, dass strahlend blaue Augen nicht ungewöhnlich für solche, die Den Traum haben, doch Gescichten über solche mit unterschiedlichen Augen habe ich vergeblich gesucht. Die Augen sind übrigens der Grund, warum ich diese Augenklappe trage. Aus irgendeinem Grund scheinen die Leute wesentlich weniger eingeschüchtert von einer großen Goliathfrau mit einer Augenklappe als von einer großen Goliathfrau mit unterschiedlichen Augen zu sein. Wie dem auch sei, mein Aussehen war immer schon ein Anlass für Gerüchte unter den Älteren gewesen, die die Ehre meiner Mutter in Frage stellten. Um fair zu sein, es war nicht unvorstellbar - wir waren keiner der Stadtstämme aus Bökkmögr und hatten öfter mit anderen Völkern und Reisenden zu tun, während wir durch die Gargant Rises zogen. Aber ich gab nie viel darauf. Wie hätte Vater mich so lieben können, wenn ich nicht sein Kind wäre? Und warum wäre ich genauso stark und zäh wie alle anderen Kinder geworden wenn ich nicht durch und durch Goliath wäre? Und nebenbei, die anderen Kinder schien es nie zu kümmern, auch wenn sie mir den Spitznamen „Bichrom” gaben. Es war jedoch nur ein harmloser Spaß und um ehrlich zu sein, mochte ich es sogar.
Auf gewisse Weise war ich sogar stärker. Ich war 14 als ich zum ersten Mal Den Traum hatte. Er ist immer derselbe für jeden Schamanen: drei Geister - ein Wolf, ein Bär und eine Eule - erscheinen dir. Sie sprechen nicht und doch rufen sie dich, locken dich, der Geisterwelt und dem Leben selbst zu dienen. Worte können der Intensität Des Traumes nicht gerecht werden. Schon ein paar Tage später erschien mein künftiger Mentor, Jörun Tarmundsson, und kündigte an, meine Ausbildung als Schamanin zu beginnen. Es ist eine große Ehre für einen Clan, wenn ein Kind zur Ausbildung als Schamane erwählt wird, also meine Eltern und ich mit freudigen Herzen.
Es ist kein einfacher Weg. Ich verstehe, warum ihn nicht jeder zu Ende geht. Doch ich schien ein Naturtalent zu sein. Ich stellte fest, dass ich besonders gut darin war, mich mit den Geistern von Tieren zu verbinden, was mich sehr freute. Und auch, die Geschichte unseres Volkes zu lernen und zu bewahren war ebenfalls hochinteressant. Das Einzige, wo ich öfter mit Jörun aneinander geriet waren seine ungewöhnlichen Überzeugungen, dass die Welt sich ändern musste, um zu überleben. Schließlich könnte die Welt mit Sicherheit auf ewig leben, wenn sie sich in Balance befand?
Mit der Zeit lernte ich außerdem, Träume und Visionen zu unterscheiden. Visionen waren für gewöhnlich sehr klar und leicht zu entschlüsseln, doch Träume waren etwas anderes. Sie waren komplex, voller Rätsel und Metaphern. Es war oft frustrierend, doch Jörun sagte stets, ich solle mir keine Sorgen machen. Träume zu entschlüsseln war Teil des letzten Ritus und ich wäre auf einem guten Weg.
Ich war 20, als mein Mentor entschied, dass ich bereit für meinen Ritus sei. Ich war überglücklich und voller Angst zugleich. Überglücklich, weil schon nach 6 Jahren weit genug fortgeschritten war, was in aller Bescheidenheit beeindruckend war. Und voller Angst, weil ich wusste, was die Initiationsriten beinhalteten.
Zuerst durchlief ich den Ritus des Todes. Es ist so furchtbar, wie es klingt. Ich nahm einen Trank zu mir, der mich an die Schwelle des Todes brachte und blieb eine Woche lang in diesem Zustand zwischen Leben und tot. Doch das tiefe Koma erlaubte es mit, mit der Geisterwelt zu kommunizieren wie ich es noch nie zuvor getan hatte und ein Verständnis ihrer Verbindung mit der Welt der Lebenden zu erlangen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Und so erwachte ich schließlich, stärker und verbundener mit der lebenden und der Geisterwelt gleichermaßen als jemals zuvor.
Ich war bereit für den Ritus der Balance, doch es dauerte etwa ein Jahr, bevor sich die Gelegenheit ergab. Dieser Winter war besonders hart gewesen und ein Rudel Schattenwölfe hatten ihr Revier verlassen, um in unserem Gebiet nach neuen Nahrungsquellen zu suchen. Mit so vielen Raubtieren in der Gegend bedeutete das, dass die Balance bald wieder hergestellt werden musste. Doch die Geister verlangten Untätigkeit. Ich folgte dem Rudel ein ganzes Jahr lang und tat nichts außer zuzusehen, wie sie langsam das andere Wild vertrieben. Es war schmerzhaft. Beinahe jede Nacht bat ich die Geister um Erlaubnis, einzugreifen, doch jedesmal wurde es mir verboten.
Dann, nach einem Jahr, hatte ich eine Vision. Doch sie zeigte mir Tod. Es machte mir keine Freude - ich bevorzuge es, Leben zu bewahren statt es zu nehmen und der Schaden war angerichtet. Doch ich tat es in der Hoffnung, dass die Fauna sich zwar ändern, aber überleben würde. Interessanterweise hatte die Vision einen kleinen Funken Leben gezeigt, eine kleine, aber helle Flamme, die mich rief. Die Bedeutung wurde mir klar, als ich die letzte der Invasoren tötete - eine wunderschöne Wölfin - und ein Jaulen hörte. Sie hatte einen Welpen! Nicht willens, ein weiteres Leben zu nehmen, entschied ich, den Welpen aufzuziehen. Das versprach ich ihrer sterbenden Mutter, als ich ihr die letzte Ehre erwies. Ich kehrte zu einem zufriedenen Jörun zurück. Er erklärte mir, dass das ehemalige Territorium der Schattenwölfe zu einem Rückzugsgebiet für viele, seltene Spezies geworden war. Nun erst verstand ich seine ständigen Vorträge über Wandel. Genau wie ich fand er keinen Gefallen daran, Lebewesen zu töten oder leiden zu sehen, doch manchmal war es notwendig. Die Geister verlangen Wandel, und wir stehen ihnen nicht im Weg, sondern ermöglichen ihn. Wir mögen ihre Kraft benutzen, doch diese Kräfte sind nur geliehen. Wir befehligen sie nicht, doch manchmal erhören sie unsere Gebete, wie sie es mit Kendra taten. So habe ich den Welpen genannt, auch wenn sie im vergangenen Jahr sehr gewachsen ist.
Wandel ist Balance. Wandel heißt Leben. Eine wichtige Lektion, keine Frage. Doch es macht mich noch immer traurig, dass so viele dafür sterben mussten. Ich hoffe, dass Wandel nicht immer mit soviel Blutvergießen verbunden ist.
Somit war es Zeit für den letzten Ritus, den schwersten von allen: Der Ritus der Trennung. Es ist der schwerste, denn bis jetzt war ich selten mehr als eine Woche von meinem Clan getrennt gewesen und auch wenn ich sie bisweilen besuchen durfte, würde es mir nicht mehr gestattet sein, dauerhaft an einem Ort zu verweilen, bis ich gefunden hätte, was ich suchte. Es ist auch der schwerste, weil das Ziel anders als bei den anderen Riten nicht klar ist. Dieser Ritus würde mir beibringen, meine Träume zu verstehen und den tieferen Sinn meiner Existenz aufzeigen. Viele Novizen sind nicht von diesem Ritus zurückgekehrt, doch wenn sie es taten, wurden sie mit offenen Armen empfangen und das Recht erworben haben, sich Schamane zu nennen.
Doch zu meiner Überraschung eröffnete mir Jörun, dass es nicht seine Aufgabe war, mich auf den Ritus zu schicken. Ungewöhnlich, doch schließlich war Jörun nicht wie andere Schamanen. Stattdessen erzählte er mir, dass ein Hierophant seines Glaubens entscheiden würde, ob ich es wert war, auf den Ritus gesendet zu werden. Ein Glaube, den ich nun als meinen eigenen erwählt habe. Den Weg des Kataklysmus.
Nach einer Reise von einer Woche erreichten wir ihren Tempel. Ich bin keine kleine Frau, doch neben der Hierophantin war ich es. Eine Frostriesin, ganz sicher: sie schien fast mit dem Berg und dem kalten Klima zu verschmelzen. Und sie war neugierig. Sie stellte mir viele Fragen über die Riten, welche ich wahrheitsgemäß beantwortete. Die letzte Frage war die seltsamste von allen: „Verstehst du die Ironie unserer Gemeinschaft?” Ich war verwirrt und sagte, dass ich das nicht tue. Daraufhin wand sie sich an Jörun. „Sie ist jung und versteht unsere Wege noch nicht vollständig, doch sie wird lernen. Sende sie auf den Pfad.”
Und so begann ich die Reise, weit entfernt von meiner Familie, meinem Zuhause und jedem, den ich liebte. Eine beängstigende Aussicht… und zugleich doch eine aufregende. Ich bin nur froh, dass ich Kendra an meiner Seite habe und nicht ganz alleine sein muss.