Ava "Evergreen" Trostbearer
„Ich bin kein Kind mehr”, murmelte Ava zu sich selbst. Ihr Kopf lag auf ihren Knien, die Arme waren um sie geschlungen. Es waren dieselben Worte, die sie benutzt, hatte um ihre Eltern zu überzeugen, Ravengrove verlassen zu dürfen. Wenn sie sich richtig erinnerte waren es auch die Worte, die Capra Jahre früher benutzt hatte. Interessant, wie das Leben manchmal spielte… sie hatte nie das beste Verhältnis zu ihrer Schwester gehabt, aber offenbar hatten sie eiige Überzeugungen geteilt.
Ava entfuhr ein kurzes, bitteres Lachen. Wie naiv sie gewesen waren.
Sie hob den Kopf und sah in den Sonnenaufgang. Es war einer dieser wunderschönen Sonnenaufgänge, von dem ihr früherer Lehrer Kaldore Miststep nicht genug bekommen konnte, wenn er mal wieder eine seiner Geschichten von seinen Reisen erzählte. Geschichten, die in Ava selbst das Verlangen geweckt hatten, zu Reisen. Jetzt, wo sie den Sonnenaufgang mit eigenen Augen sah, fühlte sie nichts. Kaldore hatte bequemerweise vergessen, die Konsequenzen zu erwähnen, die das Reisen nach sich zog. Ava hatte immer vermutet, dass er wieder auf Reisen gegangen war, als er vor etwa 50 Jahren spurlos verschwand. Nicht, dass das noch wichtig wäre. Er war vermutlich ohnehin tot, und wenn nicht, war er nur ein weiterer, der ihr etwas über die Welt vorgelogen hatte.
Sie rutschte ein paar Mal hin und her. Seit sie ihre Rüstung in der Brauerei verloren hatte, trug sie den Ersatz von diesem Schneider. Sie reichte aus, aber war ganz sicher nicht komfortabel. Sie würde diesbezüglich früher oder später etwas tun müssen.
Einem unerklärbaren Impuls folgend zog sie ihr Schwert aus der Scheide und besah sich ihr Spiegelbild im polierten Adamantium. „Kein Kind mehr, aber ich sehe noch immer so aus”, dachte sie. Sie nahm eine Strähne ihres Haars und setzte das Schwert an, doch hielt dann inne. „Du sähest gut aus mit kurzem Haar”, hatte Kifelian, ihr früherer Freund, ihr einmal gesagt. Natürlich war sie nicht mehr als ein Sprungbrett für ihn gewesen. Er hatte ihr Wissen genutzt und als es klar wurde, dass sie nicht mehr nützlich für ihn war, hatte er sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Es war wahrscheinlich vernünftig gewesen, das zu tun, aber es hatte ihr überhaupt nicht gefallen.
Sie ließ die Strähne wieder sinken und legte das Schwert neben ihren Bogen vor ihr. Sie würde ihn keinen noch so kleinen Sieg über sie erringen lassen, nicht einmal nach all der Zeit.
Ihre Augen wanderten zu dem Bogen, den sie von Rana Kintree erhalten hatte, als sie den Rangern beigetreten war. Wenigstens war das keine Zeitverschwendung gewesen. Sie hörte die schroffen Worte ihrer kampferprobten Kommandantin noch immer in ihrem Kopf widerhallen. “Seht euch um. Das sind nicht eure Freunde. Es gibt keine Freunde auf dem Schlachtfeld. Es gibt nur jene, die euch töten wollen und jene, die die anderen daran hindern, euch zu töten. Je mehr von den Letzteren ihr um euch habt, desto besser sind eure Chancen, zu überleben”, waren ihre ersten Worten an die neuen Rekruten gewesen. Ein guter Rat, aber sie war damals nicht bereit gewesen, ihn anzunehmen. Aufgewachsen mit den alten Heldengeschichten hatte sie bisher die Notwendigkeit ignoriert, mehr Verbündete als ihre kleine Reisegruppe zu haben.
Instinktiv wanderten ihre Hände zu den auf dem Bogen eingravierten Namen. Olerian und Arina.
Sie hatten denselben Fehler gemacht. Sie waren derselben Einheit zugeteilt geworden und waren schnell Freunde statt Kollegen geworden. Hatten sich gegenseitig Spitznamen gegeben und all das Zeug, das man nicht tun sollte. „Evergreen” hatte Olerian sie genannt. Er war ein gut aussehender, junger Mann gewesen. Eine Zeit lang hatte Ava gedacht, dass vielleicht mehr zwischen ihr und ihm war als nur Freundschaft. Glücklicherweise hatte sie schon damals genug Verstand besessen, diese Schwäche nicht Fuß fassen zu lassen. Er hätte sie vermutlich genau wie Kifelian einfach nur benutzt.
Sie hatte gar nicht gemerkt, wie ihre Finger wieder zum Haar gewandert waren. Sie besah sich die Strähne aus rotem, glatten Haar, die sich jetzt zwischen ihren Fingern befand. „Kein Kind mehr, aber ich sehe noch immer so aus”, murmelte sie wieder und begann, das Haar zwischen ihren Fingern zu drehen. Abgesehen von der Farbe sah es genauso aus wie Arinas, bevor sie verschwunden war.
Arina. Der letzte Strohhalm. Ihr Verschwinden war der Katalyst gewesen, der all das hier begonnen hatte. Sie hatte endlich genug von der Geheimnistuerei und den Lügen der Bewohner von Ravengrove gehabt und hatte es verlassen, um nach ihr zu suchen. Eine hoffnungslos romantische, idiotische Geste, wie sie nun wusste. Doch dann kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn. Was war, wenn niemand über ihr Verschwinden gesprochen oder nach ihr gesucht hatte, weil sie etwas entdeckt hatte, was nicht hätte entdecken sollen? Solches Wissen konnte ein Hebel sein. Ein Hebel, den sie nutzen konnten, um Ravengrove aus der Isolation zu zwingen und ihre Sache zu unterstützen. Es war weit hergeholt, zugegeben, aber weit hergeholte Vermutungen waren alles, was sie gerade hatten. Und sie würden Verbündete brauchen in diesem… Krieg? Ja, in diesem Krieg, den Garret und seine Alliierten gestartet hatten und in dem sie nun wohl oder übel verwickelt war. Je mehr Verbündete du hast, desto besser sind deine Überlebenschancen. Ava war entschlossen, zu überleben.
Ein kurzer, aber nicht besonders intensiver Schmerz unterbrach ihre Gedanken. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit über weiter ihr Haar in den Fingern gedreht hatte. Sie ließ es los, doch es blieb verfilzt. Es sich genauer besehend beschloss sie, dass es irgendwie gut an ihr aussah und machte mit dem Rest des Haares weiter.
Als sie fertig war, hielt sie einmal mehr ihr Schwert hoch und besah sich ihr Spiegelbild. „Kein Kind mehr”, murmelte sie, diesmal mit festerer Stimme, wenn auch noch nicht völlig überzeugt.
Sie wirbelte das Schwert in ein paar spielerischen Drehungen umher und genoss das Gefühl, dass diese Übungen begleitete. Warum war sie in der Vergangenheit so überempfindlich gewesen, es zu nutzen? Hatte sie nicht genug zu sehen, um zu wissen, dass es hier draußen um leben oder Leben lassen ging? „Werd erwachsen, Ava”, sagte sie laut. Es wurde Zeit, diese Vorbehalte abzulegen. Sie würde nie wieder zögern, um das zu tun, was nötig war, und sie würde es sich beweisen. Hier und jetzt.
Sie hielt ihre Hand hoch und setzte die Klinge auf die Handfläche. Dann schnitt sie ohne zu zögern tief in das Fleisch. Der Schmerz war enorm, doch Ava sprach kein Wort und betrachtete stattdessen das Blut, das aus der Wunde floss, eine Erinnerung an die, die sie einmal gewesen war. Mit ihrer rechten Hand fing sie etwas vom Blut auf ihren Fingerspitzen auf und malte damit sorgfältig Markierungen auf ihr Gesicht, eine Erinnerung an die, die sie werden musste.
Als sie fertig war, schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich auf das, was sie in den Häusern der Heilung gelernt hatte, als sie immer noch ihren Eltern nacheifern wollte. Während die naiven Lehren ihrer Eltern sie schlecht auf die Welt hier draußen vorbereitet hatten, war diese Fähigkeit von Nutzen. Es lag kein Sinn darin, von einer selbst zugefügten Wunde zu verbluten. Die Heilungsmagie funktionierte, allerdings fiel es ihr diesmal schwer, sie zu kontrollieren - die Rückkehr aus der anderen Ebene hatte etwas damit angestellt. Ava war sich nicht sicher, was genau, aber sie hatte vor, es herauszufinden.
Zum dritten Mal besah sie sich ihr Spiegelbild im Schwert. Dieses Mal erlaubte sie sich ein kurzes Lächeln und als sie sprach, hatte jeder Zweifel ihre Stimme verlassen.
„Ich bin kein Kind mehr.”