Fin und ich gingen ins Nebenzimmer, um etwas Ruhe zu haben. Das hier würde ohnehin schwierig werden, ich brauchte alle Konzentration, die ich bekommen konnte – schließlich hatte ich so etwas noch nie selbst durchgeführt, nur erfahren. Doch niemand hatte jemals etwas gelernt, ohne es zu versuchen und es war nicht gefährlich für ihn. Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, ihm all dies vorher mitzuteilen. Er sollte wissen, worauf er sich einließ. Doch die Aussicht, jemanden aus seiner Crew wiederzufinden, war für ihn genug. Ich bat ihn, mir jemanden davon zu beschreiben und er beschrieb eine Gefährtin von einst. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn ich sie gekannt hatte, aber ein solcher Zufall kam uns nicht zu Hilfe – die Großzügigkeit der vættr hatte Grenzen. So wies ich ihn an, sich hinzusetzen und trat hinter ihn, beugte mich hinab, griff an seine Schulter und sprach die Worte.
Einen kurzen Moment dachte ich, es hätte funktioniert. Ich spürte, wie seine Gedanken seinem Körper entfleuchten, doch nur für einen Augenblick. Ich war ein wenig enttäuscht, doch es wäre naiv gewesen, dass es sofort funktionieren würde. Ich nahm meine Hände von seiner Schulter und bat ihn um Verzeihung, doch Fin schien nicht enttäuscht. Im Gegenteil schien er froh, denn er hatte in diesem kurzen Moment, in dem er seinen Körper verlassen hatte, zumindest eine Richtung bekommen, in der sie war – nicht weit von hier, westlich. Ich kannte mich hier nicht besonders gut aus, aber vielleicht würden die anderen weiterhelfen können?
Als wir zurückkehrten, waren sie tief versunken in Besprechungen, wie der Wunsch genau formuliert werden musste. Ich hielt mich größtenteils zurück, da ich von solchen Dingen nicht viel verstand und darüber hinaus die Geschichte der Gruppe nicht kannte, doch ich war gerührt von ihrem Ansinnen, einer Familie zurückzugeben, was sie verloren hatte. Erst, als die Gespräche sich im Kreis zu drehen begannen, schlug ich vor, die Nachtruhe anzutreten – es würde ein ereignisreicher Tag werden. Es war besser, solche Tage gut ausgeschlafen zu beginnen. Sie stimmten zu, zuvor jedoch sprach Fin noch von seiner Ahnung. Wie erhofft, hatten die anderen eine Idee, wo es sein könnte – Road’s End, eine kleine Stadt auf der anderen Seite des Meeres. Es folgten noch ein paar weitere Privatgespräche, in dem ich mir leider einen Patzer erlaubte – ich hatte Layara ein Geschenk gemacht und sie direkt auf ihren eher fragilen Körper angesprochen, was sie offenbar hart traf. Das hatte nicht in meiner Absicht gelegen, ich hatte wieder einmal vergessen, wie die Leute hier um Angelegenheiten herumtanzten. So drückte ich ihr lediglich die kleine Bärenfigur aus Holz in die Hand und verschwand mit einem schuldbewussten Gewissen in mein Zimmer.
Die Ruhe währte jedoch nicht lange. Fin weckte mich schon kurze Zeit später, gemeinsam mit Beatrix und wir versammelten uns in meinem Zimmer. Beatrix hatte berichtet, dass einer ihrer „Mörder”, ein Zwerg namens Grimmalk, angekommen war. Das dies kein Zufall war, erschien mir eindeutig – es gab keine solchen Zufälle. Doch was es bedeuten mochte, darin war ich ebenso ratlos wie die anderen. Doch da sie und insbesondere Beatrix sehr nervös waren, bot ich an, ihnen zumindest für die Nacht Sicherheit zu geben. Ich stellte meinen gandr in die Mitte des Raums, der sich daraufhin in das vertraute Zelt verwandelte. Ich konnte nicht anders als mich zu Hause zu fühlen … diese beengten, gemauerten Räume behagten mir nicht, von den kleinen und viel zu weichen Betten ganz zu schweigen. Hier konnte ich mich wenigstens für diese Nacht der Illusion hingeben, draußen zu sein. Zufrieden rollte ich meinen Schlafsack aus, wies Kendra ihren Schlafplatz zu und schlief ein.
Am nächsten morgen ging ich zunächst mit Fin hinunter in den Frühstücksraum. Zwar würden wir alle an der Tour teilnehmen, doch da er und ich noch nicht offiziell mit der Gruppe in Verbindung gebracht worden waren und wir nicht wussten, was dieser Grimmalk vorhatte, erschien es klug, diese Erscheinung aufrecht zu erhalten. Auf der Tour erwartete uns dann eine weitere Überraschung – nach einer kurzen Einleitung und Vorstellung der Ailamere Drei entpuppte sich eine der Statuen als der lebende Grimmalk, der heute die Tour führen wurde. Ein Fakt, der insbesondere Beatrix, die hinter uns her räumte, sehr nervös machte. Ein Bild fügte sich zusammen. Grimmalk war eine jener Personen, die gerne übertrieb, das war sofort zu merken. Seine Geschichten von hunderten Kobolden, die sie heroisch bekämpft hätten. waren erlogen, doch sie machten die Geschichte zumindest interessanter und ich war solcherart Übertreibung von meinem Bruder gewohnt. Ich vermisste ihn. Die Tour selbst hingegen war eher enttäuschend. Pappfiguren und ungefährliche Konstrukte sorgten nicht gerade dafür, die Bedrohung eines Drachenhorts adäquat darzustellen, selbst der simulierte Drachenatem, der mich traf, war eher ein warmes Lüftchen und hätte mich offenbar nichtmal treffen sollen. Sicher, hier kamen auch Kinder durch, aber hätte man nicht eine Version für Erwachsene ersinnen können? Oder vergaß ich gerade nur wieder, dass die Leute hier für gewöhnlich deutlich weicher waren als in meiner Heimat und ich tat ihnen unrecht?
Schließlich erreichten wir den eigentlichen Hort. Nach einem kurzen Rundgang, bei dem ich nicht umhin kam zu bemerken, dass Layara sich die Tasche mit Schokoladentalern vollstopfte, sicher als Folge meines Kommentars von gestern, war die Tour vorbei und die anderen Teilnehmer verließen den Hort. Der Zwerg blieb, natürlich. Doch anders, als ich befürchtet hatte, war er nicht dort, um uns in unserem Vorhaben zu behindern, sondern eine Einladung von Narchessa auszusprechen – oder einer anderen Partei, die im Namen Narchessas handelte. Der Bezwinger eines dreki als Botenjunge … Narchessa musste tatsächlich Macht besitzen.
Nachdem auch er gegangen war, war es Zeit. Der Wunsch wurde gesprochen und tatsächlich verwandelte sich der Kobold Beatrix wieder zurück in den dreki Belaxarim, doch irgendetwas anderes ging schief – Layara fiel um, noch bleicher als sonst, und atmete nicht mehr. Ich tat alles, was ich konnte, doch ihre Wunde war von keiner mir bekannten Art. Sie starb mir unter den Händen weg, und ich konnte nichts dagegen tun. Die Rettung kam von Gorok, der geistesgegenwärtig auf Geräusche aus der gegenüberliegenden Wand reagiert hatte und dort einen kleinen dreki befreite, der nun auf Layara zugesprungen kam. Ich weiß nicht, was genau er tat, doch einen kurzen Moment später schlug Layara zu meiner Erleichterung aller anderen (insbesondere der von Leeroy) die Augen auf.
Nach einer kurzen Verschnaufpause, in der wir beobachten durften, wie die überglückliche Belaxarim ihre kleine Tochter Tamarax begrüßte, wurde das weitere Vorgehen besprochen. Selbst für einen dreki gab es hier Gefahren, insbesondere einen, der eigentlich tot war. Der Große Rote, wie die anderen ihn nannten, hatte offenbar das Ziel, andere Drachen zu beseitigen und die Ailamere Drei könnten beschließen, ihren Ruf als Drachentöter wieder herzustellen. Nahm man hinzu, dass Belaxarim nach eigener Aussage mehr Diplomatin als Kämpferin war – die Probleme ergaben sich von selbst. Nach einigem Hin und Her kamen wir daher zum Schluss, dass eine Vereinbarung mit den Ailamere Drei getroffen werden musste. Eine, die beinhaltete, dass die Existenz von Tamarax bis zum Erreichen des Erwachsenenalters geheim gehalten werden musste. Zunächst hatte Gorok in seiner liebenswert direkten Art dafür argumentiert, die Ailamere Drei zu töten, immerhin könnten wir einen von ihnen gleich hier alleine beseitigen. Sogar Layara hatte dem zugestimmt, eine Seite, die ich so nicht an ihr vermutet hätte. Ich hingegen hatte kein Interesse an sinnlosem Blutvergießen – niemand von uns besaß die Weitsicht, die Folgen unseres Handelns abzusehen. Die vættr hatten Grimmalk offensichtlich nicht geschickt, um uns in unserem Tun zu behindern, es gab derzeit keinen Grund, anzunehmen, dass sie es künftig tun würden.
Daraufhin verließen wir den Hort, um den Plan in die Tat umzusetzen. Ich durfte Zeuge der enormen Stärke der dreki werden, als Belaxarim einen gewaltigen Stein einfach so zur Seite rollte – selbst die iǫtunn in meiner Heimat hätten vermutlich ein wenig dabei geschwitzt. Während die Augen der Besucher von dem Drachen gebannt waren und die anderen mit Meister Ravel über das weitere Vorgehen sprachen, begleitete ich Gorok zur Kutsche, in der Grimmalk auf uns wartete, um ihm unseren Vorschlag zu unterbreiten. Als dieser den Drachen erblickte, erstarrte er einen Augenblick, dann schien er im Geiste Kontakt mit jemandem aufzunehmen. Wir mussten uns beeilen, ihm den Vorschlag zu unterbreiten. So schlug Belaxarim ihm vor, dass die Ailamere Drei sie in Ruhe lassen würden und sie im Gegenzug den Besuchern davon erzählen würde, wie sie sie in einem heroischen Kampf bezwungen hätten. Das schien dem Zwerg zu genügen, er gewann langsam an Fassung zurück und machte sogar Drohungen – ein Schauspiel für die Umstehenden, soviel war klar. Ich sah hinüber zu Layara – sie schien die Macht zu genießen, die sie gerade über den Zwerg besaß. Hatte ich sie falsch eingeschätzt? Gorok war in unserem draumr in Flammen gehüllt und hatte von einem Drachen gesprochen. So wie Layara mit verschränkten Armen neben Belaxarim stand – war sie gar die Gefahr, vor der ich schützen sollte? Nein, dass erschien mir unwahrscheinlich, die beiden verstand ein starkes Band. Ich musste mehr herausfinden, bevor der draumr Sinn ergeben würde.
Grimmalk hatte währenddessen wieder unsichtbar Kontakt zu jemandem aufgenommen, diesmal jedoch wirkte er dabei deutlich entspannter und ich hoffte, dass er eine Art Entwarnung gegeben hatte. Dann wiederholte er seine Einladung und gab uns zehn Minuten Zeit, darüber zu entscheiden, bevor er zur Kutsche zurück stiefelte. Fin und Layara waren aufgrund ihrer Abneigung gegenüber Narchessa strikt dagegen, Gorok hingegen war offen dafür und ich hoffte trotz der Gefahr auf Antworten und vielleicht sogar eine weitere Vision oder einen draumr. Wahres Wissen offenbarte sich schließlich nur selten ohne Gefahr und Entbehrungen, dass hatte ich während meines ersten Ritus schmerzhaft, aber endgültig gelernt. Letzten Endes gab Leeroys Stimme den Ausschlag, der aufgrund der involvierten Unsicherheiten dagegen votierte. Wir teilten Grimmalk unsere Entscheidung mit, der eher indifferent darauf reagierte und von einer verpassten Chance sprach – zumindest darin stimmte ich ihm zu, doch ich war mir sicher, dass sich die nächste offenbaren würde.
Unser weiteres Vorgehen sollte nun darin bestehen, in eine Stadt namens Zoica zu reisen. Ich war neugierig, hatte ich doch viel davon gehört. Natürlich würde das auch wieder beengte Räume bedeuten, doch bis dahin war ja etwas Zeit, an der frischen Lust und unter offenem Himmel zu reisen. Zuvor sollte noch ein Zwischenstop in Road’s End eingelegt werden, um nach Fin’s Freundin zu suchen.
Doch zuallererst galt es, sich für die Reise zu stärken – das Fleisch vom Grill duftete schon seit geraumer Zeit verlockend. Aus den Augenwinkeln konnte ich jedoch nicht anders, als schuldbewusst wahrzunehmen, wie Layara sich zusätzlich zu ihrer Portion ein paar Schokotaler in den Mund stopfte …